Montag, 16. Januar 2012
[die Kehrseite]
Am Anfang war alles easy.
Ich liebte den Sport, das Tanzen war nur so eine Art Sahnehäubchen obendrauf, das ich leicht nach zwei Stunden Fitnessbude noch auf einer halben Pohälfte absolvieren konnte. Aber mit den Jahren, die es mittlerweile doch schon sind, hat sich alles verändert.
Das Tanzen wurde mehr, der Sport wurde weniger.
Und die Ansprüche stiegen auch. Nun ging Sport vor dem Tanzen nicht mehr, denn man brauchte Körperspannung und keine müden Arme oder Beine. Nach dem Tanzen ging Sport meistens nicht mehr, weil es spät am Abend in der Woche war.

Nach dem dritten Tanzlehrer war klar: Tanzen ist eine Lebensaufgabe. Man lernt nicht irgendwas und kann das dann. Man muß bereit sein, das vorhandene Wissen immer wieder in Frage zu stellen, Dinge aus einer komplett neuen Richtung zu sehen, Gewohnheiten aufzugeben, neu zu lernen, lernen, lernen. Tanzen ist eine Herausforderung auf ganzer Linie. Man muß detailverliebt sein und einen nerdigen Hang zu solchen Details haben, denn als Erwachsener erschließen sich einem die Dinge nicht mehr selbstverständlich. Und man muß eben auch demütig sein.

Seit September nun also Verein.
Gut war, daß die Atmosphäre dort angenehm und freundlich ist. Aber es ist tatsächlich so, daß auch Leistungsbereitschaft vorausgesetzt wird. Man startet ja schließlich für den Verein und mehrt dessen Ruhm und Ehre. Und starten sollte man, sonst gehört man dort nicht hin. Und irgendwie wollen wir ja auch, also weiterkommen, aber nicht unbedingt dieses Wettbewerbsding.

Nun sind wir aber drin und der Sog der Spirale aus Wollen und Sollen entfaltet sich.
Im Winter ist es ja nicht weiter schlimm, denn wenn man an regnerischen und trüben Tagen seine Freizeit in fensterlosen Hallen verbringt, dort, wo die Konsensfarbe aller Trainierender das einheitliche Schwarz ist, dann fragt auch keiner nach, warum man so blaß und müde aussieht. Aber dann kommen so Tage wie heute und ich denke: Sonne! Was ist, wenn die Wochenenden sonnig werden? Was ist, wenn andere im Biergarten sitzen oder an der Seenplatte joggen und ich stehe dann in einer fensterlosen Halle?
Nicht ohne Grund startet die Saison im Herbst und endet vor dem Sommer. Aber das Training geht weiter.

"Wir tanzen weiter, denn sonst sind wir allein", sagt Gerde, die mit ihrem Mann mit 73 Jahren noch durch die Lande tingelt und Turniere tanzt. "Wir haben durch das Tanzen unseren ganzen sonstigen Freundeskreis verloren und so haben wir wenigstens noch jede Menge Kontakt", gibt sie offen zu.
Wahrscheinlich ist das irgendwann so, wenn man es lange, zu lange?, macht. Dann gibt es nicht mehr viel außerhalb dessen.

Dann sehe ich unsere Trainer. Kinderlos. Beide arbeiten bei einer Behörde. Der Feierabend: Training. Das Wochenende: Privatstunden geben oder nehmen, um das Geld zu verdienen für die Fahrten zu den Turnieren, die Hotels, die Kleider, Frack, Schuhe, Styling. Tanzen ist ein teurer Sport. Das merken wir auch ganz deutlich. Und am unteren Ende der Hackordnung verdient man nicht, da zahlt man erstmal.
Ich frage mich, ob die Trainer überhaupt noch Freunde haben. Und dann gibt es ja andere Trainer, die fünf Klassen höher, die jetten dann nur noch in der Weltgeschichte herum, heute Rom, morgen Tokio, da kostet Dich dann schon der Handschlag und das Guten Tag richtig viel Geld.

"Es gibt Leute, die sagen, alleine um die Linksdrehung richtig zu lernen habe ich den Gegenwert eines Kleinwagens hingelegt", erzählt Gerda.

Ich bin gespalten. Das Wollen ist da, aber das Sollen macht mir Sorge. Und auch, daß das Tanzen offenbar so nichts neben sich dulden mag, wenn man es ernsthafter betreiben will.

Schon jetzt vermisse ich Dinge. Ins Kino gehen - schon ewig nicht mehr gemacht. Sommerabende auf dem Balkon waren auch sehr selten im letzten Jahr. Und Shoppen gehen? Unvorstellbar geworden. Wann? Und vor allem: wovon?
Vor allem die Zeit scheint zwischen den Fingern zu zerrinnen, Zeit für uns miteinander, Zeit für die Kätzchen, Zeit für Freundschaften und Zeit für meine anderen sportlichen Leidenschaften, Zeit zum Lesen, Zeit zum Musikhören.

Tanzen essen Leben auf. Das trifft es wohl.




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